From nose to tail – Von der Schwanzflosse bis zu den Lippen – Vom Kamm bis zu den Krallen – Mit Stumpf und Stiel


29.11.2023
Severin Bühlmann

Ein Blick über den Tellerrand

Icons schwein fisch huhn gemuese

Manchmal kann ich meine Frau nicht küssen. «Wäk pfui! Mami hör auf!», rufen meine Söhne am Tisch, wenn Mami einen Fisch verspeist. Das Maximum des Grauens ist jeweils der Moment, wenn sie die Augen aussaugt. Wo wir andern das Fischfilet essen, ist ihr höchster Genuss der ganze Rest des Fisches, angefangen von der Schwanzflosse bis zu den Lippen. Genüsslich macht sie sich über diese und die anderen Flossen her, dann über das Gehirn, Rückenmark, Haut und Fischlaich. Am Schluss bleiben ein paar Gräten übrig, aber nicht mal das immer. In Essig werden die dann auch weich und bleiben nicht im Hals stecken. Sind auch gesund, enthalten Bausteine, die unserem Körper nützlich sind.

Ähnliches gilt den Vierbeinern: Das Billigste, das man hierzulande beim Metzger bekommt, sind die Knochen. Das Knochenmark ist aber aus Sicht der TCM etwas vom Wertvollsten, denn es ist das Verborgenste, eigentlich das Jing. Andere Teile sind auch nicht zu verachten: Sauschwänzli, Hühnerfüsse – eben alles, from nose to tail.

Als ich das erste Mal in den 1980er-Jahren in China war, lud uns Westler der Klinikdirektor der Chengdu TCM-Universität zu einem Imbiss in sein Büro ein, das auch das Klassenzimmer war, in dem er meistens dozierte. Es gab Ente. Das heisst, es gab davon eigentlich mehr Haut und Knochen als Fleisch und alles war in grobe Stücke gehackt. Es brauchte noch eine gewisse Zeit, bis ich realisierte, dass aus Sicht der TCM das reine Muskelfleisch nicht unbedingt das wertvollste an einem tierischen Gericht ist, sondern Sehnen, Gehäder, Haut, Knorpel, Knochen und praktisch alle anderen Organe und Gewebe des Tieres als dem Menschen nützlichere Komponenten als das Fleisch der Muskeln angesehen waren. Dass man die Knochen dann einfach auf den Boden von Herrn Professors Büro spuckte und es nicht angebracht war, sie auf den Schülerpulten zu deponieren, musste ich ebenfalls mit Staunen lernen. Der Professor selbst machte es uns vor. Und auch mit Verwunderung nahm ich zur Kenntnis, dass es durchaus in Ordnung war, dass sein Assistent Liu Guohui plötzlich in das Büro platzte und sein Velo in Professors Schulstube parkierte, denn das war ebenso selbstverständlich wie die eben erlernten Essmanieren. An diesem Ort war nämlich das Velo am sichersten vor Diebstahl geschützt. Sie kennen Liu Guo Hui. Wir luden ihn dann in die Schweiz ein, weil er ein ausgewiesener Spezialist für Wen Bing Lun war. Später emigrierte er dann in die USA, wo er auch sein Standardwerk zu Wen Bing Lun schrieb. Ich stelle mir vor, wie ich als Medizinstudent mein Velo im Büro des grossen Zürcher Uniklinikdirektors Walter Siegenthaler («Sigi») parkiert hätte. Nein, nicht vorstellbar!

Wen Bing Lun von Liu Guohui

Wen Bing Lun von Liu Guohui

Die Hühnerfüsse gehörten bei meinen späteren Aufenthalten in Guangzhou standardmässig zu einem Yam Cha (Dim Sum), also zu einem Frühstücksbrunch. Chinesische Familien trafen sich da in den grossen Einkaufszentren, in denen meistens ein ganzes Stockwerk als Restaurant konzipiert war. In turnhallengrossen Räumen war ein unvorstellbares Gewusel von Gästen und Bedienungspersonal. Da wurden runde Tischplatten herangerollt und auf einen Sockel gelegt, wenn wieder ein Familienclan Platz nehmen wollte. Am Eingang stand oder sass man geduldig Schlange, bis ein Platz geschaffen war. Da die meisten Menschen damals in kleinsten Wohnungen wohnten, zumeist als Dreigenerationengemeinschaft, konnten Familientreffen, zu denen Onkel, Tanten, Neffen, Cousins etc, gehörten, eben nur in solchen Restaurants stattfinden. Da wurden Familienangelegenheiten in aller Öffentlichkeit verhandelt, da wurde gefeilscht und gestritten, gemobbt und gerichtet. Unfügsame wurden abgekanzelt und beschimpft. Die Tochter, die den greisen Eltern schauen musste und daher nicht heiraten durfte, beschwerte sich bei ihren Geschwistern und Verwandten, dass sie dafür von diesen zu wenig vergütet würde und die Gegenpartei warf ihr vor, nicht gut genug zu den zu Pflegenden zu schauen. Es war immer sehr laut in diesen Hallen und es wurde nicht nur gestritten. Es konnte auch feuchtfröhlich zu- und hergehen. Aufgetischt wurde, dass die Tischplatten sich bogen. Servicepersonal war annähernd so zahlreich wie die Gästeschar. Man bestellte etwas und innert Minuten, gefühlt in Sekunden kamen die Gerichte auf den Tisch. Es war alles immer sehr frisch zubereitet. Gegen Ende der Mahlzeit wurde gefragt, welcher Art eine lange Suppe vorrätig sei. Eine lange Suppe ist ein während Stunden gekochtes Konzentrat aus teuren Ingredienzien, wertvollen Kräuter wie zum Beispiel Ginseng, Gojibeeren, Shiitake, Cordyceps oder Reishi enthaltend nebst Gemüsen und selbstverständlich teurem Getier (z.B. Schildkröte, Abalone, Seegurke, Haifischflosse, Schwalbennest).

Die Hühnerfüsse übrigens: gar nicht übel, mariniert. Ein bisschen viel Knöchelchen, aber ganz ok. Die Vorbereitung braucht ein bisschen Zeit: Zehennägel werden entfernt und die Haut abgeschält.

Huehnerfuesse
Huehnerfuesse mariniert

Chi le fan ma? Hast Du schon gegessen? So lautet «Grüezi» oder «Guten Tag» auf Chinesisch. Essen ist etwas vom Wichtigsten in China, vielleicht das Wichtigste. Man lebt in China um zu essen, wogegen wir im Westen essen um zu leben. Selbst im politischen Leben spiegelt sich das, wie Sun Longji in seinem Buch «Das ummauerte Ich – die Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität» schreibt: der oberste Kanzler im alten China wird Jiazai genannt, was ursprünglich Küchenmeister bedeutete. Die unteren Chargen seines Amtes hatten Titel wie «Herr des Breis», «Herr des Salzes», «Herr des Hackfleischs».

Dimsum

Wir haben kein Meer und auch nicht so vielfältige Klimazonen wie China und daher ist die Auswahl an Lebensmitteln nicht so gross wie in einem Land wie China. Aber Hühner hätten wir, um Hühnerfüsse zuzubereiten zu können. Stattdessen begnügen wir uns häufig nur mit Pouletbrüstchen. Es wird gesagt, dass die grossen Schlachthäuser die Hühnerfüsse schiffsladungsweise nach Asien exportieren.

In unserer Kleinstadt (immerhin mit 16‘000 Einwohnern) gibt es keine Metzgerei mehr, die diesen Namen verdient. In der benachbarten Kantonshauptstadt Aarau gibt es noch eine und zwar eine gute. Dort wird ausschliesslich Bio-Fleisch verkauft. Gemetzget wird aber auch dort nicht mehr vor Ort.

Und noch eine Besonderheit gibt es in Aarau: im ehemaligen Schlachthof haben sich Beat Kohli und sein Team von Bio Fidelio fidelio || Fidelio-Biofreiland AG & Fidelio Produkte AG Rohrerstrasse 118 5001 Aarau eingemietet.

Ehemaliger Schlachthof Aarau

Der ehemalige Schlachthof Aarau, wo sich nicht nur Bio Fidelio befindet. Offensichtlich haben sich da auch Metzger eingenistet, die eherne Dampfrösser ausweiden.

Bio-Fleisch, d.h. frisch gemetzgete Tiere werden von Biohöfen angeliefert. Man kann dort anrufen und das bestellen, was einem beliebt, zum Beispiel Leistenfleisch. Das ist das Muskelfleisch, an dem das Zwerchfell befestigt ist, im Rohzustand sieht es nicht eben aamächelig aus. Getrocknet ist es eine Delikatesse! Rezept von Susanne Vögeli

Zwerchfell

Roh (Bild: Samuel Herzog)

Pork Jerkey

Pork Jerky (Bild: Susanne Vögeli)

Immer am Samstag berichtet Samuel Herzog, der Foodscout der NZZ in der Beilage «Wochenende» über ein Lebensmittel. Es begann mit A und endete eben mit Z wie Zwerchfell. Die neue Serie ist themenbezogen. Von Susanne Vögeli Raum Acht | Forschen und Kochen (raum-acht.li) stammen die Rezepte in der NZZ-Wochenendbeilage. Sie hat das Zwerchfell zubereitet. Ihre Gäste waren des Lobes voll.

Susanne Vögeli hat das Fülscher-Kochbuch neu herausgegeben.

Fuelscher kochbuch

Es stand ja damals fast in jedem Haushalt. Schon meine Grossmutter und meine Mutter hatten es. Es enthält 1500 Rezepte. Darunter erstaunliche! Man könnte meinen, es sei in Teilen direkt aus einem chinesischen Kochbuch übernommen worden. Leber und Herz fein schneiden, kurz braten…Ich lese Begriffe wie Sukiyaki, Shirataki, Shoyu, Ajinomoto, Bambussprossen, Glasnudeln. Woher Frau Fülscher das wohl hatte? Die erste Ausgabe der Rezeptsammlung stammt von 1923, noch unter ihrer Lehrerin veröffentlicht, die letzte von 1966. Der Reprint von 2013 nimmt die Ausgabe 1966 als Vorlage. Das Buch kann direkt bei Susanne Vögeli bezogen werden.

Perlhuhn rezept
Vorbereiten der eingeweide
Hirn rezept

Elisabeth Fülscher war aber wenig zimperlich, sie verarbeitete jegliche Trends in ihrem Buch: Appetithäppchen mit Ananasstückchen aus der Dose und Mayonnaise aus der Tube oder Crevettencocktail, Spaghettisalat, Pizza, Beutelsuppen von Maggi und Knorr sind ebenso darin zu finden wie aufwändig zuzubereitende Menüs aus Innereien, die wir eher in Asien anzutreffen erwarten. Was wohl eine Cornetbrille zum Herstellen der Guetzli namens Plaisir des Dames sein mag? Weder im Buch noch im Internet finde ich einen Hinweis dazu. Oder die Fürst-Pückler-Eis-Bombe? Den Fürst finde ich ausführlich beschrieben auf Wikipedia. Nicht uninteressant!

Vegetarische Menüs sind ebenfalls gesondert gelistet, sogar unterschieden nach kleinen, nach reicheren und solchen für Rohköstler! Frau Fülscher machts allen recht.

Die folgenden Bilder zeigen vor allem den Umstand, dass die begnadete Köchin ein Multitalent war und offenbar über einen schier unerschöpflichen Zugang zu Lebensmitteln verfügte, die den Durchschnittsschweizern jener Zeit verwehrt war. Sie konnte aber alle Schichten bedienen, die oberen mit den abgebildeten Schlemmereien, die andern mit einfachen, aber trotzdem schmackhaften Rezepten. Hätte eine TCM-Fachperson die Gerichte auf deren Qualität im Sinne einer gesunden TCM-Ernährung beurteilt, wäre da Kochbuch wohl nicht ganz so umfangreich geraten, aber es hätte doch noch allerhand hergegeben, was die Bedingungen für eine Ernährung gemäss den Vorstellungen der TCM erfüllt. Ochsenschwanzsuppe etwa und viele andere Suppen auch, einfache Gemüsegerichte, aber auch manche Menüs mit Fisch oder Fleisch.

Fuelscher 4
Fuelscher 3
Fuelscher 2
Fuelscher 1

Frau Fülscher bediente gehobene Gesellschaft und kannte Früchte und Gemüse, die das einfache Volk nicht kannte. In meiner Jugend gab es unter den exotischen Früchten praktisch nur Orangen und Bananen. Ananas kannte ich nur aus der Dose. Als Kind der Nachkriegszeit musste man sich von den Eltern sagen lassen, wir könnten froh sein, dass die Zeit der Essensmarken vorbei sei. Der zweite Weltkrieg war noch in den Köpfen der Eltern omnipräsent.

Meine Grossmutter betrieb im Dorf noch einen Laden, der auf dem Aushängeschild mit «Kolonialwarenladen» beworben wurde. Ich erinnere mich nicht, dass es da Frischobst aus fernen Ländern gegeben hätte. Stattdessen gab es Hosenknöpfe, Haarspängeli, Flickgarn, schwarze Trauerknöpfe zu kaufen, ja, auch Mehl oder Reis offen aus der Schublade. Es roch nach Mottenkugeln zum Zweck der Fernhaltung von Käfern und Maden. Alles ziemlich bescheiden.

Noch nicht lange her: 1850 kam es wegen der Hungersnot zur Massenauswanderung von Schweizern nach Amerika. 1770 schrieb Ueli Bräker in seinem Werk «Der arme Mann im Tockenburg (Toggenburg)», dass wegen Missernten in Folge gekochtes Unkraut auf den Tisch kam, was er immer noch besser fand als was der Nachbar machte, der von einem verreckten Pferd einen ganzen Sack Fleisch abhackte, woran sich schon mehrere Tage Hunde und Vögel sattgefressen hatten, wie Daniel Di Falco (s.u.) berichtet. Dass wir heute nur noch die Filetstücke mögen, ist also ein recht junger Trend.

Susanne Vögeli hat jetzt 70 Rezepte aus dem Fülscher nachgekocht, zum Teil leicht modernisiert.

Kochbuch fuelscher heute

Die 14 Kapitel mit je 5 Rezepten werden von bekannten Persönlichkeiten mit je einem mehrseitigen Text eingeleitet. Historiker, Kulturwissenschaftlerinnen, Soziologen, Journalistinnen kommen zu Wort: Elisabeth Bronfen, Nadine Brügger, Daniel Di Falco, Olivia Kühni, Denise Schmid, Walter Leimgruber, Daniela Müller, Samuel Herzog.

Ganz in der Tradition von «from nose to tail» liegt auch «das Kochbuch der Kittin von 1699», das soeben erschienen ist.

Kochbuch kittin

Ein Beispiel: Geschmorte Rinds- oder Schafskutteln mit den Zutaten Zwiebeln, Sultaninen, Imper, Zitronensaft. Ich wusste bis dahin nicht mal, dass auch Schafe Kutteln liefern. Imper ist Ingwer, offensichtlich schon 1699 ein fremdländischer Import. Vier Mägen hat die Kuh: den Pansen, den Netzmagen, den Blättermagen und den Labmagen. Alle sind essbar, am häufigsten wird der Pansen gegessen. Chinesen bemängeln, dass bei uns im Westen zu viel gebraten, gebacken und frittiert wird, was Lebensmittel schwerer verdaulich macht, also Toxine («Schlacken») anhäuft und zu Gegenmassnahmen in Form von ausleitenden Suppen, Tees, bzw. medizinischen Rezepturen führt. Einem Besuch im Pizza-Restaurant folgt am nächsten Tag bei uns zuhause immer eine hitzeklärende Suppe.

Frau Kitt, geborene Anna Margaretha Gessner, kam 1652 an der Marktgasse Zürich als eines von 19 Kindern in einer vornehmen Kaufmannsfamilie zur Welt und heiratete in die nicht minder vornehme Familie Gessner ein. Sie wurde dann einfach die Kittin genannt. Und sie kann auch anders als nur frittieren und grillieren: Forellenfilets mit Zitronensaft und Salz leicht würzen, dann einen Sud von Weisswein, Essig, Wasser, Lorbeer, Muskatnuss, Salz und Ingwer vorbereiten und die Fischfilets beigeben, wenn der Sud siedet und 4-5 Minuten ziehen lassen. Man hat förmlich vor Augen, wie leicht verdaulich Fisch so im Vergleich zur in Butter gebratenen Forelle nach Müllerinart ist.

Im Restaurant bestellt meine Frau kein Fischmenü, das auf Braten oder Grillieren basiert, denn sie hegt den Verdacht, dass Fisch, der auf diese Art zubereitet wird, alt sein muss, denn so spürt man ihm das nicht mehr an. Gedämpft hingegen muss Fisch frisch sein. Wo solcherart Zubereitung nicht erhältlich ist, wird auf Fisch verzichtet.

Frau Kitt ist auch bewandert in Sachen Haltbarmachen von Gemüse und Früchten: Süss-sauer eingelegter Gemüsemix aus Karotten, Randen, Rettich, Zwetschgen in Essigwasser mit Pfeffer, Lorbeer, Salz und Zucker, Knoblauch und Chili. Passt gut zu kaltem Fleisch, aber auch Käse.

Oder Rosenzucker für die Engbrüstigkeit, Nussen mit zuker einzumachen, Erbselen mit zuker einzmachen, Maulbeerisafft zu machen, ist gut für das halsswehe…

Und was meinen Sie zum in Kohle gekochten Schweinskopf?

Rezept Schweinskopf

Krautzeinen ist ein Korb für Gemüse und Kräuter

Unser Jüngster war kürzlich nach China gereist, hat dort ein paar Wochen einen Chinesischkurs besucht. Am ersten Abend haben sie ihm dort Leber, Niere, Herz und Schafpenis vorgesetzt. Gäste werden in China oft mit viel teurem Fleisch und Meeresgetier verwöhnt, Schildkröte, Abalonen, exotische Fische. Es entspricht selten meinem Geschmack, Gemüse würde mich eher interessieren, aber es wäre unhöflich, das Angebotene nicht zu sich zu nehmen, von Geniessen kann dabei nicht immer die Rede sein. Ich meide deshalb so weit wie möglich solche Treffen. Die obligaten Besäufnisse zur Etablierung von guten Geschäftsbeziehungen sind mir ebenfalls ein Gräuel. Bai Jiu (Hirseschnaps, Reisschnaps) gefällt mir gar nicht. Sein modriger Geschmack kommt nie und nimmer an ein feines Kirschendestillat oder an ein anderes edles Wässerchen unserer Breitengrade heran. Und dass das Treffen erst endet, wenn die sündhaft teuren Flaschen leergetrunken sind, ist oft ziemlich degoutant. Verbrüderungsszenen mit tagsüber geschätzten Geschäftspartnern… ach lassen wir das Thema! Wir hatten’s ja vom Essen.

Vielleicht schreibt dereinst jemand ein Geschichtsbuch über den Aufstieg Chinas zur Weltmacht im 21. Jahrhundert aus der Perspektive des Kochherds. Könnte es sein, dass die Vielfalt der Küche Nationen wie China, Indien oder andere in Asien zu den Leistungen befähigt, die eine wirtschaftliche Vorherrschaft begünstigen? Könnte Asien in diesem Bestreben nur gestoppt werden, wenn es gelänge, die dortigen Nationen auf die Schiene des einfältigen Donald-Burger-Cola-KFC-Zero Sugar-Foods zu bringen? Ist das der Grund für den Niedergang der Weltmacht USA?

Frühstücken wie ein Kaiser, ein Mittagessen wie ein König und das Abendessen wie ein Bettler – diese Formel wurde nicht aus China importiert, sondern sie stammt von hier. Nur wird sie bei uns kaum gelebt.

Zurück in die Gegenwart, bzw. ins Ende des 20. Jahrhunderts: immer im Herbst kam bei uns, der Medizinstudenten-WG, die auf dem Land wohnte und das Studium mit Arbeit in der Land- und Forstwirtschaft verdiente, der Störmetzger vorbei, also der Metzger, der von Bauernhof zu Bauernhof geht, um dort den Bauern den angesammelten Kompost zu verwerten. Den Kompost in Form einer prächtigen Sau. Die hielten wir, damit sie die Abfälle des Hofes verwertete, Reste aus dem Gemüsegarten, wurmstichiges Obst, die Milch von Kühen, die gerade gekalbt hatten, denn die Milch der ersten Tage kann man zwar teilweise dem Kalb geben, aber dieses mag nicht alles trinken. Die Milch der ersten Tage ist richtig räss, fast ranzig. Ich weiss nicht recht, wie ich den Geschmack beschreiben soll. Irgendwie wie Schabziger. Die darf man nicht in die Milchannahmestelle (Hütte) bringen. Colostrum ist der Fachbegriff. Die Zusammensetzung ist ganz anders als die der Milch, die danach produziert wird. Der Sau ist es egal, sie frisst ja alles. In der Hütte vertrat ich manchmal den Bauer Eugster, der den Bauern die Milch abnahm, sie zentrifugierte, den Rahm abschied und den Rest den Sauen verfütterte. Ich musste also diesen kochen, mit Kartoffelflocken verdicken. Dazu hatte der Eugster einen Ofen selbst gebaut. Heizen musste ich ihn mit zerschnittenen Autopneus. Die gaben gewaltig Hitze her! Rauch auch und auch Gestank. Zurück zu unseren eigenen Sauen und dem Störmetzger Siegrist. Am Morgen der Bolzenschuss und dann sofort die Schlagader geöffnet und das Blut rausgelassen und in einem Eimer aufgefangen. Darin musste mit der Hand gerührt werden. Siegrist erlaubte kein anderes Gerät. Da bildeten sich dann die Fibrinfäden wie ein Netz um die Finger, das man entfernte. Der Rest des Blutes wurde dann in die gewaschenen Därme zu Blutwürsten verarbeitet. Die besondere Delikatesse war der Bluthund, die Blutwurst, die in den Enddarm abgefüllt wurde, ein Mordsding. Sofort nach dem die Sau ihr Leben ausgehaucht hatte, wurde sie in einen Zuber mit heissem Wasser geworfen, dann mussten mit glockenförmigen Messern die Sauborsten abgeschabt werden. Danach wurden ihr die Haut und die Fettschicht abgezogen. Draussen machten wir ein grosses Feuer und liessen das Fett aus. Zurück blieben die Greuben, das Bindegewebe der Fettschicht. Rösti mit frischen Greuben (Grüben, Grieben): Mmmmhhhh, herrlich! Es brauchte starke Leute, die Sau wurde an Haken am Tor des Tenns aufgehängt. Es waren immer viele Leute vor Ort, denn es gab viel Arbeit für alle. Der Saugrind wurde abgetrennt und es gab Leute, die sich bevorzugt darüber hermachten: Sauschnörrli, Öhrli, Zunge fanden ihre Liebhaberinnen und Liebhaber, das Sauschwänzli natürlich auch, ebenso Saufüessli, Wädli. Fast alles fand Verwertung. Letztlich freuten sich auch Möppeli, der Boxer und Marius, der Halbbergamasker, Nachbars Bläss, der Appenzeller auch und natürlich auch all die Katzen. Bis alles schön zerlegt und aufgeräumt war, war der Abend jeweils schon ziemlich fortgeschritten. Zum Ausklang des Tages gab es frische Blutwürste.

Die obige Szenerie dürfte sich nicht viel anders weltweit abspielen, so sie nicht von industriellen Schlachtbetrieben abgelöst wurde. Später verdiente ich mein Studium in einer mechanischen Werkstätte mit Drehen, Fräsen, Bohren, Löten, Schweissen. Wir konstruierten Prototypen für Grossmetzgereien. Eine Maschine durchfuhr mit Dutzenden feinsten Messerchen altes Kuhfleisch und machte aus dem zähen Stück zartes Rindfleisch. Die nächste Maschine besass eine Menge langer Kanülen, durch die Wasser und Konservierungsmittel in die Fleischstücke gepumpt wurde. So blieb das Produkt schön rosa. Ob das heute noch so gemacht werden darf oder sind am Ende noch raffiniertere Tricks erfunden worden?

Doch zurück nach China:

Chinesisch Kochen geht so:

Ruestabfall

Nein, ich habe nicht das falsche Bild reingezoomt! Was will es sagen? Wer nicht täglich eine Schüssel Grünabfall als Resultat des Gemüserüstens produziert, gilt als faule Hausfrau. Oder fauler Hausmann. Und viel Gemüse gehört zum täglichen Nahrungsbedarf, auch wenn der zunehmende Wohlstand in China Hunderte Millionen Mittelschichtler entstehen liess, die auch viel Fleisch und Meeresfrüchte im Speiseplan lieben. Männer kochen in China auch gern, häufig und gut. Arbeitsteilung im Haushalt ist gang und gäbe, wo es noch gemeinsame Haushalte gibt, denn auch in China nimmt das Singleleben in den Städten rasant zu. Frische Produkte, viel Gemüse sind der Schlüssel für Gesundheit und langes Leben. Fleisch und Fisch muss zwar in China vielerorts sein, doch die Exzesse der chinesischen Kaderelite und der gehobenen Hotellerie sind nicht obligat. In China können sich das ohnehin nicht alle leisten. Die grosse Mehrheit in China lebt bis heute (2023) bescheiden. Glaubt man den Zahlen, gibt es in China rund 300 Millionen Wanderarbeiter, die rund CHF 300.– monatlich verdienen. Wanderarbeiter sind sie wohl aus Not geworden, was bedeuten könnte, dass Hunderte Millionen von Chinesen noch weniger verdienen. Es ist zu vermuten, dass noch viele in familiären landwirtschaftlichen Betrieben nahezu Subsistenzwirtschaft betreiben. Damit lässt sich mancherorts gut leben. Ergibt das ein falsches Bild von Chinas Statistik bezüglich Wohlstand? Einkommen quasi Null, aber Lebensqualität mit fleissigem Arbeiten auf Feld und Hof gut. Meine Frau kommt aus dem Süden Chinas. Da haben die Leute das ganze Jahr über Erntezeit und das Angebot an verschiedenen Gemüsen ist riesig. Es besteht keine Notwendigkeit zum Sparen oder Vorsorgen, es hat immer von Allem genug. In unserem Klima müssen wir für den Winter vorsorgen, mussten Methoden entwickeln, wie Gemüse haltbar gemacht werden kann. In manchen, vor allem in grossen Teilen der südlichen Provinzen Chinas ist das unnötig. Aber natürlich kennt der andere Teil Chinas Konservierungsmethoden. In Sachen Fermentieren hat Asien Meisterleistungen hervorgebracht.

Fermentieren erlebt bei uns gerade einen Boom.

Was haben «Lange Suppen» und Fermentieren gemeinsam? Lange Suppen sind solche, die stundenlang gekocht wurden. Sie werden am Morgen angesetzt und sind dann zum Mittagessen parat. Wichtig ist, dass sie in einem Guss gekocht werden, dass also der Kochprozess nicht unterbrochen wird, indem man tags zuvor damit anfängt und dann erst am nächsten weiterkocht. Es werden Bausteine frei, die anders kaum gewonnen werden. Yin, Xue, Jing, Jie werden genährt, Wärme wird transferiert, Qi und Yang können sich entfalten. Eine rundum gesunde Sache. Ausgangsmaterial für eine lange Suppe sind alltägliche Gemüse, Früchte (z.B. Jujuben, Longanen, Feigen), Pilze, Fisch oder Fleisch, oft solches, das wir als Ghäder bezeichnen würden, Knochen, Heilkräuter der TCM. Lange Suppen werden meistens im Anschluss an ein reichhaltiges Essen serviert.

Auch Fermentieren ist ein Prozess, der in einem Gang durchlaufen wird und die Bedingungen (Temperatur, pH, Sole, sauerstoffarm) müssen vorhanden sein, damit sich das erwünschte Endprodukt ergibt, denn andernfalls entwickeln sich die falschen Bakterien und das Ganze verdirbt.

Interessiert Sie Fermentieren? Ok, Susanne Vögeli würde uns einen Kurs geben. Ich werde gelegentlich darüber orientieren.

In China vegetarisch oder vegan leben? Das hat Tradition. Etwas abschätzig sagen manche Chinesen, das sei für die Mönche. Die hätten Zeit für solche Spässe und das mönchische kontemplative Leben wäre ohnehin durch hitzige Nahrungsmittel, also Fleisch und Meeresgetier vieler Arten gestört. Da käme sonst das Blut in Wallung. Klar, was damit gemeint ist. In einem taoistischen Klosterrestaurant vegetarisch zu speisen, ist aber hip, manchmal mit einem Schuss Absurdität gehypet: Fisch, der aussieht wie ein Fisch, schmeckt wie ein Fisch, aber nur pflanzliche Bestandteile hat, ein Huhn, gleicherart visuell und geschmacklich modelliert. Es gibt aber auch mehr und mehr profane Betriebe, die veganes Essen anbieten. Nicht nur amerikanische Fastfoodketten haben in China Zulauf.

Vegetarisches Restaurant
Vegetarische Speisen

Alles vegetarisch für die Studenten des chinesischen Sprachkurses in Beijing 2023

Den Trend auf die Spitze getrieben haben schon in den 80er-Jahren während meiner Besuche in China Restaurants, bei denen am Eingang der Arzt sass, der einem den Puls fühlte und die Zunge anschaute und jedem Gast sein zum Befund passendes individuelles Menü verschrieb, das er dann vorgesetzt bekam.

Der Sinloge Thomas O. Höllmann hat ein überaus lesenswertes Buch zur Kulturgeschichte der chinesischen Küche verfasst.

Kulturgeschichte der chinesischen kueche

Und da sind sie wieder, die Kutteln: «in Bier gekochte Kutteln». Schon 1148 erwähnt, im Dongjing meng Hua lu, wo zudem zu lesen ist: «Die Menschen in der Metropole sind extravagant und rücksichtlos; jeder Gast will etwas anderes. Sogar die kleinsten Fehler melden die Gäste dem Wirt, der daraufhin den Kellner rüffelt oder einen Teil des Lohns einbehält; im schlimmsten Fall droht gar der Rausschmiss.» Unmenschlich? Nichts im Vergleich zum Kaiser Gaozu, dem ersten Kaiser der Han-Dynastie (206-195 v. Chr.), dem nachgesagt wird, er habe den Leichnam des gegen ihn opponierenden Königs von Liang zerlegen und pökeln lassen, um das Geschnetzelte anschliessend an seine Lehensträger zu verfüttern.

Was fehlt noch beim Blick rund um den Tellerrand? Verweilt man einen Wimpernschlag zu lang in den gängigen Social Media-Portalen auf einem Reel zu Essen, Pflanz- oder Kräutergarten, so führt einem der Algorithmus fast nur noch Beiträge zu den genannten Themen vor. Echte und selbsternannte Expertinnen und Experten zeigen, was wir alles wie essen können und wie und warum etwas gesund ist. Wir erfahren viel Neues und manchmal auch ein bisschen Schräges, auch Halbwissen, mitunter auch mal etwas, das nicht unbedingt nachahmenswert ist. Es wird fleissig voneinander abgekupfert und man tut gut daran, nicht alles als bare Münze zu nehmen. Selbst als Koryphäen bekannten Personen ist nicht immer zu trauen. Auch sie käuen bisweilen wieder, was andere schon (falsch) rapportiert haben.

Aber ich amüsiere mich sehr auf diesen Medien und freue mich, dass so viel junges Volk dabei ist. Ich habe sogar meine Vorbehalte zum heutigen von Tattoos übersäten und von Piercings durchlöcherten Jungvolk revidiert, denn auch dies streift durch die Wälder, kennt gar mehr Pilze als ich, interessiert sich für alles Essbare frisch aus der Natur und fuhrwerkt leidenschaftlich in der Küche.

Nicht wahr, das stimmt doch zuversichtlich!

Severin Bühlmann

Winter 2023