Gibt es giftige Chinesische Kräuter?


25.08.2022
Severin Bühlmann

Selbstverständlich gibt es sowohl unter unseren Heilkräutern im Westen wie auch unter denen aus China solche, die giftige Stoffe enthalten. Schon Paracelsus aber sagte, dass die Dosis das Gift ausmache und mutmasslich sagten dies auch andere Ärzte Jahrhunderte vorher schon. Wenn die Fachperson für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ihr Metier aber gelernt hat, sollten keine Zwischenfälle auftreten.

In den Zeitungen taucht regelmässig der Zwischenfall mit den Frauen auf, die eine Schlankheitsklinik in Belgien aufsuchten, in der gegen Übergewicht eine Wundermedizin angepriesen wurde. Wie sich herausstellte, waren in dieser Mixtur aber nebst zwei chinesischen Kräutern mehrere chemische Medikamente, z.B. ein Amphetaminabkömmling. In Drogenkreisen laufen Amphetamine unter dem Namen Speed. Für den Schaden an den bedauernswerten Frauen wurden die chinesischen Kräuter verantwortlich gemacht. Sie erkrankten nämlich an einem Nierenversagen und mussten an die Dialyse oder erfuhren eine Nierentransplantation oder erkrankten gar an Nierenkrebs. Dieses traurige Schicksal erlitten gegen fünfzig Frauen während einer kurzen Zeitperiode. Über Jahre, bzw. mittlerweile Jahrzehnte wird diskutiert, warum das passieren konnte. Die verdächtigten Kräuter wurden in China seit mehr als hundert Jahren verwendet, ohne dass eine derartige Häufung von Schäden bekannt geworden wäre. Zwar wurde noch herausgefunden, dass statt das beabsichtigte Kraut Stephania (Han Fang Ji) fälschlicherweise Aristolochia (Guang Fang Ji) verwendet wurde, doch erklärte auch das noch nicht die Massierung der Fälle. Aristolochia ist tatsächlich ein giftiges Kraut. Es enthält Aristolochiasäuren, die toxisch wirken. In dieser Klinik kam es, so muss angenommen werden, durch die Kombination von westlichen Medikamenten in Kombination mit dieser Aristolochia zu einem fatalen Aufschaukeln der Toxizität. Seither sind aristolochiasäurehaltige Pflanzen zuerst in Europa und schliesslich auch in China verboten worden. Liest man in alten Kräuterbüchern, wird die heilsame Wirkung der in Europa bekannten Osterluzei (Aristolochia clematidis) lobend erwähnt. Haselwurz, eine bei uns heimische Asarumart, auch aus der Familie der Aristolochiaceae (Osterluzeigewächse), früher auch medizinisch genutzt, ist somit auch verboten. In der TCM wird ebenfalls eine Asarumart verwendet. Wurde, muss man sagen, denn bei uns ist deren Einsatz aus obigen Gründen verboten. Der Aristolochiasäuregehalt ist bei richtigem Gebrauch derart niedrig, dass er mitunter trotz dem Einsatz hochsensitiver Laborgeräte unter die Nachweisgrenze fällt. Doch Verbot bleibt Verbot. Viele TCM-Fachpersonen vermissen dieses Kraut sehr. Es sei bei gewissen Krankheiten unabdingbar. Einen Ersatz durch eine andere Pflanze gebe es nicht, jedenfalls keinen mit vergleichbarer Heilkraft in den Fällen, wo sein Einsatz nötig wäre.

Asarum europaeum

Asarum europaeum

Sie haben vielleicht ein anderes Beispiel eines neurdings als giftig taxierten Heilkrautes im Kopf: Huflattich, ein während Jahrhunderten bewährtes und hochgeschätztes Heilkraut gegen Husten. Drogisten und Apotheker probten den Aufstand, aber das Kraut war nicht zu retten. Es enthält unter anderem sogenannte Pyrrolizidin-Alkaloide (PA). Diese scheinen keinen Nutzen zu bringen. Die medizinisch heilsame Wirkung von Huflattich beruht auf anderen Substanzen, die auch noch in diesem Kraut drin sind. Pyrrolizidin-Alkaloide können in höherer Dosis zum Beispiel Leberschäden machen oder sie können der Bildung von Krebs Vorschub geben. Man hat das an Kühen gesehen, die auf Wiesen grasten auf denen pyrrolizidinalkaloidhaltige in grösseren Mengen wuchsen. Heute dürfen Kräuter solche Stoffe per behördliche Bestimmung nur in winzigen Mengen enthalten, um medizinisch genutzt werden zu dürfen. Damit sind dann aber die erwünschten Mengen an nützlichen Stoffen nicht zu erreichen und man verzichtet auf deren Einsatz. Mittels eines chemischen Verfahrens soll es möglich sein, die Pyrrolizidinalkaloide herauszufiltern. Ein bekannter Schweizer Hersteller eines Wallwurzgels macht das dem Vernehmen nach so. Und mittels Selektion können angeblich pyrrolizidinalkaloidarme Huflattichpflanzen gezüchtet werden.

PA enthalten noch viele andere Pflanzen, z.B. Wasserdost (Eupatorium). Greiskraut (Senecio), Pestwurz (Petasites), Wallwurz = Beinwell (Symphytum). PA bilden Pflanzen, um sich vor Frassfeinden zu schützen.

Huflattichblüten

Huflattichblüten

Wissenschafter lieben es, unsere Pflanzen nach Wirkstoffen zu durchsuchen. Sie finden dies und jenes und isolieren diese Stoffe. Dann testen sie diese an Mäusen, Tieren und Menschen und machen sich ein Bild von deren Wirkungen. Was aber ist ihr Ziel? Häufig wollen sie im Dienste der Pharmaindustrie herausfinden, ob man mit diesen Stoffen eine Medizin herstellen kann, die sich gut verkaufen lässt. Die Pharmachemie arbeitet aber im Labor nach ziemlich einfachen Methoden. Sie kann höchstens einen einzigen Stoff aufs Mal untersuchen. Eine ganze Pflanze wäre viel zu kompliziert. Eine Pflanze ist eine ungeheuer riesige Fabrik, in der ständig Stoffe hergestellt und ausgetauscht werden. Diese Fabrik ist unglaublich flexibel im Angebot ihrer Produkte. Die Palette wechselt im Tag- und Nachtrhythmus, Sommer und Winter, zur Zeit der Keimung und zu der der Reife. Zehntausende von verschiedenen chemischen Verbindungen flitzen da herum. Sogar wenn die Pflanze geerntet, abgeschnitten, sozusagen tot ist, arbeitet die Fabrik weiter. Immer noch verändert sich das Kraut in der Zeit der Lagerung. Und daraus holen Wissenschafter oft nur gerade einen einzigen Stoff hervor, zum Beispiel das Koffein aus dem Kaffee. Da der Mensch gleichermassen eine wundersame Fabrik ist, die noch viel komplizierter als eine Pflanze auf vielfache Art auf äussere Einflüsse reagiert, ist das Staunen gross, wenn der eine Mensch nach Genuss von Koffein hellwach ist und der andere sich seelenruhig nach zehn Tassen hinlegen und einschlafen kann. Da kommen wir mit unseren vereinfachenden und simplen Labormodellen nie an den Kern des wahren Lebens. Warum bekommt der eine Mensch und warum gerade dieser und nicht der andere von einem Antibiotikum einen juckenden Ausschlag, der andere Durchfall und der dritte eine starke Müdigkeit, die vierte einen Scheidenpilz und der nächste Erbrechen. Und warum kann niemand im Voraus sagen, wem dies oder jenes nach der Einnahme passiert? Fragen, auf die die Medizin, die sich wissenschaftlich nennt, noch kaum Antworten gefunden hat.

So ist es denn auch mit der Giftigkeit von Heilkräutern. Wohl gibt es eindeutig giftige Kräuter, wo wir ziemlich genau sagen können, dass nach der Einnahme von so und so viel Gramm dies oder jenes passieren wird. Aber von diesen Kräutern braucht man doch gar nicht zu sprechen. Da ist doch alles mehr oder weniger klar. Man wird sich auf die richtige Dosis beschränken müssen unter Wahrung einer gewissen Sicherheitsbandbreite.

Die alten Chinesen haben schon längst herausgefunden, dass es in der Natur Kräuter gibt, die zwar sehr gut gegen eine bestimmte Krankheit wirken, aber leider pur belassen giftige Nebenwirkungen haben. Sie haben darum Methoden entwickelt, wie sie die wirksamen Substanzen in der Pflanze behalten und die nicht nötigen, giftigen unschädlich machen konnten. Da wurden komplizierte Verfahren entwickelt, zum Beispiel wiederholtes Kochen unter Zusätzen von Essig oder Wein oder Mineralien wie Gips und Kalk, durch Eingraben im Boden, durch Lagern in Gefässen von bestimmten Materialien, durch Auskochen mit anderen Kräutern zusammen. Bis heute werden solche Verfahren angewandt und alle wissen, wie man so behandelte Kräuter prüfen muss und wie man sie braucht. Zudem ist es nie so, dass ein chinesisches Kraut allein gebraucht würde. Immer befindet sich dies in Gesellschaft anderer. Solche Rezepturen werden seit Jahrhunderten, zum Teil seit zwei Jahrtausenden bis heute noch in bis aufs Gramm exakt gleicher Dosis abgewogen und verabreicht. In solchen Rezepturen passiert es, dass gewisse Kräuter sich in einer gewünschten Wirkung potenzieren und sich in einer unerwünschten neutralisieren. Da steckt ein unglaublicher Erfahrungsschatz dahinter. Wenn nun also ein Quacksalber kommt und chemische Substanzen mit chinesischen Kräutern mixt, so ist es kein Wunder, dass nichts Vernünftiges, oder schlimmer, wie im Fall der Frauen in Belgien, etwas Fatales dabei herauskommt.

Fingerhut (Digitalis)

Fingerhut (Digitalis)

Etwas komplizierter ist es, wenn die Heilwirkung eines Krautes auf die Anwesenheit des giftigen Inhaltsstoffes beruht und ein gewisses Quantum davon nötig ist und wenn die therapeutische Dosis nahe bei der toxischen liegt. In der Schulmedizin gab es während Jahrzehnten zur Behandlung von Herzinsuffizienz Digoxin, ein Gift aus dem Fingerhut (Digitalis). Die therapeutische Bandbreite war sehr eng. Auch das gibt es. Ich kenne den Fall einer Frau, die an einer rheumatischen Krankheit litt. Vorerst halfen die Kräuter ihr nicht viel, denn die Dosis war niedrig. Mit steigernder Menge aber griff die Rezeptur. Das Rheuma, eine Polymyalgia rheumatica verschwand und ist seither nach vielen Jahren auch nicht mehr wiedergekommen. Die Rezeptur enthielt den Eisenhut (Aconitum), von dem gesagt wird, er sei die giftigste Pflanze der nördlichen Hemisphäre. Die alten Chinesen hatten sich schon vor Jahrhunderten dessen Heilwirkung zunutze zu machen gewusst. Durch langes Kochen mit anderen Kräutern zusammen können sie den Gehalt an toxischem Aconitin minimieren und mit den Inhaltsstoffen anderer Kräuter, z.B. Ingwer dessen Toxizität auffangen.

Eisenhut, Aconitum napellus, das europäische Pendant zum chinesischen Aconitum carmichaeli

Eisenhut, Aconitum napellus, das europäische Pendant zum chinesischen Aconitum carmichaeli

Aconit ist aus manchen klassischen Schulrichtungen der TCM nicht wegzudenken. Schüler der sog. Feuerschule setzen in grossem Masse darauf.

Unsere westlichen Wissenschafter gehen, wie das oben geschildert wurde, von isolierten Einzelsubstanzen aus. Es ist für sie zu kompliziert, erklären zu müssen, was geschieht, wenn man nicht die Einzelsubstanz geniesst, sondern die ganze Pflanze. Tatsächlich ist man da auf Stoffe gestossen, die einzeln an Mäuse verfuttert, bei diesen Krebs hervorriefen. Gab man aber die ganze Pflanze, so waren die Mäuse sogar im Gegenteil besser vor Krebs geschützt als eine normale Population von Mäusen, die weder dies noch jenes erhielten. Das ist für Wissenschafter unheimlich schwierig zu erklären. Solche Aufgaben lieben sie deshalb nicht. Aber für einen chinesischen Mediziner ist das die klarste Sache der Welt, vollkommen logisch. Wenn Sie hier auch eine Antwort parat haben, dann sind Sie auf dem besten Weg dazu, wichtige Grundsätze der chinesischen Betrachtungsweise bereits verinnerlicht zu haben. Das ist natürlich nicht nur chinesisch gedacht. Man sollte doch einfach meinen, dass das dem gesunden Menschenverstand entspricht. Der wird ja wohl nicht auch noch nur gerade in China erfunden worden sein. Wir dürfen also zusammenfassend nicht a priori akzeptieren, dass da jemand kommt und sagt, diese oder jene Pflanze sei giftig, weil sie diesen oder jenen chemischen Stoff enthält. Sofort muss man da ein 'Ja halt mal aber..' entgegnen dürfen. Wir dürfen mal ruhig solche Behauptungen in Frage stellen und nach ihrer Herkunft fragen. Oft kommen wir dann zum Schluss, dass solche Aussagen nicht unwidersprochen im Raum stehen gelassen werden sollten. Wir laufen sonst Gefahr, dass uns nach und nach noch ein Haufen Heilkräuter weggenommen wird.

Haben Sie schon einmal den Packungsprospekt eines chemischen Medikamentes durchgelesen? Da werden die wildesten Nebenwirkungen so mir nichts dir nichts in Kauf genommen und mit behördlichem Segen auf den Markt geworfen. Sogar Todesfälle werden da akzeptiert, ohne dass es jemandem in den Sinn käme, das Mittel zu verbieten. Das jüngste Beispiel ist Viagra. In der Weltwoche vom 3.9.98 steht, dass bereits 123 Männer daran gestorben sind. Das nächste wird wohl Thalidomid (Contergan) sein. Die chemische Industrie verspricht sich Riesengewinne davon. Es dürfte die Zulassung demnächst schaffen. Und da sind wir beim Punkt angekommen, wo über Giftigkeit zu sprechen ist: hätten die Pflanzen eine so grosse Lobby wie die chemische Industrie, so wäre es auch nicht möglich, sie immer mehr in die Ecke zu drängen. Es geht hier nicht darum, zu sagen, Chemie ist schlecht und Pflanzen sind gut. Beides kann im entscheidenden Moment Grosses leisten. Chemie und Pflanzenheilkunde schöpfen beide je aus einem Fundus, den man hegen und pflegen sollte. Es ist nicht einzusehen, warum es nötig ist, sich gegenseitig anschwärzen und konkurrenzieren zu wollen. Man müsste eben die Sache auf die sachliche Diskussionsebene stellen und nicht einfach einem Markt überlassen, der nur den Profit sieht.

Wir haben uns bei der Firma Complemedis sehr um Fragen bezüglich Giftigkeit von Kräutern bemüht und eine grosse Datenbank aufgebaut. Wir stehen schon jetzt Behörden, Wissenschaftern aus Ost und West, Therapeuten und Interessierten mit Rat zur Seite.

Severin Bühlmann

25.11.2004, revidiert 2022